ACHTUNG: Im folgenden Artikel sind auch Bilder zu sehen, die Gewalt unter Menschen zeigen. Wer das nicht sehen mag, kann oder darf, liest besser nicht oder nur auf eigene Gefahr weiter. Weder Qimago noch der Autor übernehmen Haftung.
Auf O-Young Kwon sind wir bei Qimago durch Zufall gestoßen. Auf Facebook tauchte eine Bilderstrecke auf, die Aufstände in Frankreich zeigten. Das faszinierte mich (Elmar) sehr. Die Bilder waren nicht aus der Sicherheit eines Fensterplatzes geschossen worden, sie waren mittendrin. Offensichtlich hatte der Fotograf viel auf sich genommen um mittendrin zu dokumentieren. Mich interessierte die Story dahinter, daher schrieb ich ihn an, nachdem sich Qimago darauf geeinigt hatte, dass wir gern mehr darüber wissen und zeigen wollten. O-Young kam uns sehr entgegen und verfasste folgenden Artikel zur Bilderstrecke. Danke! O-Young Kwon ist Dokumentarfotograf aus Berlin, ansässig in Hamburg. Durch sein Interesse an kulturellen Unterschieden, erkennt er tiefsitzende soziale Diskrepanzen, die sich oft durch politische Zusammenhänge erklären lassen. Seine Geschichten zeichnen sich durch eine streng ethische Arbeitsweise und besondere Gewissenhaftigkeit aus.
Da knallt es an der Champs-Élysées, Tränengas überall, schon das dritte Wochenende in Folge. Neben gepanzerten Polizisten sehe ich Personen in gelben Warnwesten über den Bildschirm rennen. Landesweit über 40000 Menschen sind auf den Straßen Frankreichs und geben ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. Mir ist noch unklar womit und weshalb, weil mich die Berichterstattung verwirrt. Die Medien wissen offenbar nicht wer die Demonstrierenden sind, geschweige denn anführt. Immerhin schaffen sie es dann doch gemeinsam Forderungen zu artikulieren, die deutlich machen, dass es sich um keine homogene Masse handelt und sie sich selbst als unpolitische Bürgerbewegung verstehen, die außerhalb des politischen und gewerkschaftlichen Rahmen agiert.
Es erheben sich besonders Menschen aus der Peripherie Frankreichs, den Kleinstädten und ländlichen Gebieten. Teile des Landes, die normalerweise nicht zu sehen sind. Von Menschen sowohl aus dem linken als auch dem rechten Spektrum, die sich durch die Wirtschaftsreformen Emmanuel Macrons an den Rand gedrängt fühlen. Sie halten seine Politik für abgehoben und sehen vermögende Menschen elitär bevorzugt, sodass für viele die Angst vor sozialem Abstieg der Antrieb für die Proteste ist. Sie fordern unter anderem die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und Erhöhung von Mindestlohn und Rente. Später haben alle Kräfte der französischen Opposition und anderen Organisationen von links nach rechts, mit Ausnahme der Grünen, sich diskret, aber unterstützend zur Bewegung geäußert oder beteiligten sich an den wöchentlichen Demonstrationen. Selbst Schüler und Studierende schlossen sich der Bewegung an und brachten sich beispielsweise mit Protesten gegen die erschwerten Zugangsbedingungen zu Universitäten ein. Ganze drei Viertel der Franzosen sympathisieren nun mit der sozialen Arbeiterbewegung, den sogenannten „Gilets Jaunes“ (auf Deutsch: Gelbe Westen).
Überwältigt, ja fast beflügelt, dachte ich an die große Französische Revolution, die genauso aus der Wut der populären Klasse hervorging und dann zu einem größeren Bewusstsein führte, indem sich verschiedene Kämpfe verbündeten und so tiefgreifende macht-und gesellschaftspolitische Veränderungen in ganz Europa in Gang setzten. Ich fragte mich ob jetzt diese Gilets Jaunes, mit mittlerweile über 300000 Demonstrierenden, tatsächlich eine ähnlich große Wirkung entfalten könnten? Vielleicht ist es nur die geografische Nähe zu Deutschland, die mich etwas überschwänglich reagieren lässt, aber ich hatte das Gefühl, dass die Dynamik eine sehr große Ausstrahlungskraft und ein unendliches Potential beherbergt. Währenddessen kann man beobachten, wie die Medien die Strategie des französischen Staates antizipieren und die Aufmerksamkeit auf die Gewalt der Protestierenden richten. So sagte Emmanuel Macron: „Das sind Menschen, die die Republik zerstören wollen. Und jeder, der dabei war, macht sich zum Komplizen“. Es wurde gleichzeitig von der eigenen Gewalt abgelenkt und die Bewegung der Gilets Jaunes diskreditiert. Egal, wie berechtigt die ursprünglichen Forderungen auch waren, waren einige ihrer Anhänger von der gezeigten Gewalt schockiert und distanzierten sich zunehmend. „Ich will dass wir starke, zusätzliche Entscheidungen treffen, damit so etwas nicht mehr passiert“, sagte Macron weiter und nutzte die medienwirksamen Bilder und die wachsende Unsicherheit innerhalb der Bewegung um ein weitaus härteres Eingreifen der Polizei zu legitimieren.
Trotzdem gingen immer noch Zehntausende jede Woche auf die Straße und standen landesweit 60000 Polizisten gegenüber. Letztendlich war es diese Ausdauer, die mich so sehr beeindruckte und ich beschloss, mir das einmal mit eigenen Augen anzugucken. Als Fotograf nahm ich natürlich meine Kamera mit und so fuhr ich zum letzten Protestwochenende im April nach Paris und blieb noch bis zum 1. Mai, an dem die Gilets Jaunes zusammen mit anderen linken Vereinigungen und den Gewerkschaften vereint eine große Demonstration angemeldet hatten.
Durch das große Gewaltpotential, kontaktierte ich Kollegen, die sich mit der Lage in Frankreich besser auskennen. Ich informierte mich bei ihnen sowohl über bisherige Vorgehensweisen der Demonstranten und Polizisten, als auch über eventuell benötigte Schutzausrüstung. Denn es kam wohl schon zu schwerverletzten Journalisten und sogar Toten unter den Demonstrierenden. Als mir ein Kollege sein, durch übergroße Plastikgeschosse der französischen Polizei, zertrümmertes Schienbein zeigt, besorgte ich mir zusätzlich noch Schienbeinschoner und eine stichsichere Weste, die meine bereits existierende Riot-Ausrüstung (Helm, Brille, Gasmaske) ergänzten. Durch weitergehende Recherchen konnte ich Treffpunkte der beteiligten Gruppierungen in den sozialen Medien ausfindig machen, was mir dabei half, mich so gut es geht auf dem Laufenden halten zu können.
Der Zugang zur Demonstration am 1. Mai gestaltete sich schwieriger als gedacht. Schon bei der Ankunft mit der Métro waren französische Antiterroreinheiten überaus präsent und Polizisten tasteten mich ab und durchsuchten meine Tasche. Trotz Presseausweis und gegebener Notwendigkeit einer Gasmaske wurde sie konfisziert mit der Begründung, dass diese Art von Masken generell verboten wären. Erst nach einer gewissen Vehemenz bekam ich meine Maske wieder, durfte meinen Weg zur Demonstration jedoch nicht fortführen. So gelangte ich nur auf Umwegen, aber dafür mit kompletter Ausrüstung dort an.
Der Protestmarsch kam langsam in Gang. Unter den Demonstranten war die Stimmung sehr aufgeladen. Sprechchöre, wie „Macron, tritt zurück!“, „Die Straße gehört uns!“ oder „Die ganze Welt hasst die Polizei!“, schallten durch die Massen. Laut Berichten beteiligten sich 20000 bis 55000 Menschen an dieser Demonstration in Paris und wurden von einem massiven Polizeiaufgebot, sowie zahlreichen Pressevertretern, begleitet.
Schon nach kurzer Zeit kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Meinen Beobachtungen zu Folge provozierten autonome und linksextreme Demonstranten, nach Schwarzer Bloc-Taktik, ein Fehlverhalten einzelner Polizisten. Die Auseinandersetzung schaukelte sich schnell hoch und führte zu einer Art Katz-und Mausspiel zwischen linken Demonstranten und Polizei. Nach nun mehr als einem halben Jahr andauerndem Protest wirkten alle Teilnehmenden sehr verbittert. Die gesamte Szene ist sehr chaotisch und durch massiven Einsatz von Tränengaskartuschen sehr unübersichtlich. Alles liegt in Gas. Am Straßenrand brechen linke Demonstranten mit Hilfe von demontierten Straßenpollern und anderen Gegenständen den Asphalt auf um Wurfmunition zu erhalten.
Überall knallt es. Blendgranaten und Schreckbomben werden seitens der Polizei eingesetzt um sich die Massen vom Hals zu schaffen und auseinander zu treiben. Noch zucke ich jedes Mal zusammen, doch schon nach kurzer Zeit macht es mir nichts mehr aus, auch wenn es genau neben mir explodiert. In meinem Tunnel sehe ich nur noch Motive überall, die ich festhalten möchte und fotografiere was das Zeug hält. Es fiept in meinen Ohren, an Ohropax habe ich nicht gedacht. Ich werde von allen möglichen herumfliegenden Gegenständen am Körper getroffen. Während meine Kollegen, teilweise mit privatem Personenschutz, nur am Rand stehen, bin ich und ein anderer Kollege mittendrin, denn ich fotografiere am Liebsten weitwinklig und nah dran. Auf einmal wird genau dieser Kollege am Kopf getroffen und sinkt zu Boden. Aus einer breiten Platzwunde am Kopf strömt Blut heraus und ich frage mich, warum er bloß seinen Helm abgenommen hatte. Ich ging sicher, dass er medizinisch versorgt wurde und gleichzeitig freute ich mich über die gemachten Aufnahmen.
Die Polizei kann einzelne Täter festnehmen und es beruhigt sich alles wieder, sodass der Protestmarsch wieder fortgesetzt wird. Die Sonne scheint, es ist herrliches Wetter und die Stimmung verbessert sich spürbar. Der Gesang der Menschen wird ab und an unterbrochen um die Polizei auszubuhen, denn sie halten den Polizeieinsatz für unverhältnismäßig. Mehrere Kilometer legt der Marsch jetzt ohne nennenswerte Vorkommnisse zurück, Zeit, auch mich etwas von den Strapazen zu erholen und ich komme langsam wieder runter. Auf einmal hält der Protestzug an und ich laufe an die Spitze um in Erfahrung zu bringen was los ist. Dort sehe ich wie ein Großaufgebot der Polizei, jetzt auch mit Wasserwerfern, die Route blockiert.
Die Menschen sehen keinen Grund dafür und drängen die Polizisten dazu, sie weiter ziehen zu lassen. Die Polizeiblockade drückt die Massen weg und hält stand, eine halbe Stunde lang. Währenddessen bemerkt man große Truppenbewegungen rundherum und umzingelten von allen Seiten die Protestierenden. Die Menschen fühlen sich eingeengt und bedroht. Sie schreien die Polizisten an. Diesmal sind es ausschließlich friedliche, auch ältere Menschen, die so ihren Unmut ausdrücken. Von hinten werden sie an die Polizeiblockade gedrückt, bis die Polizisten schließlich mit Schlagstöcken und Pfefferspray eine erneute Eskalation erzwingen. Die Protestierenden sind aufgebracht, Tränengaskartuschenhagel von allen Seiten. Mehrere Demonstranten liegen nach Polizeiattacken reglos auf dem Boden. Die Wasserwerfer kommen zum ersten Mal zum Einsatz, die Massen weichen zurück.
Wir befinden uns an einer großen Kreuzung, jetzt geht alles sehr schnell. Da vorne werden Autos und Motorräder angezündet, an einer anderen Stelle wird der Asphalt wieder zerhauen. Nun greifen die Polizisten von mehreren Seiten aus an. Auch Polizeibeamte zählen nun zu den Schwerverletzten. Zu diesem Zeitpunkt ist die Polizei vollkommen überfordert. Da hinten reißt der Schwarze Bloc die schützenden Spanholzplatten von einem Bankinstitut herunter, demoliert die darunter liegenden Scheiben und zerstört das Innere. Noch weiter hinten sieht man tiefschwarzen Rauch aufsteigen, überall wurde Feuer gelegt. Das Adrenalin breitet sich aus, mein Herz schlägt schneller und befinde mich zurück in meinem Tunnel. Meinen Atem höre ich laut durch die Maske, meine Brille beschlägt immer wieder von Innen und habe nur noch eine verschmierte Sicht. Ich fotografiere trotzdem weiter und fülle den Buffer auf Anschlag. Ich renne ständig hin und her, kann mich kaum entscheiden, in welche Richtung zuerst. Und dann… „Autsch!“.
Ein tief stechender Schmerz überkommt mich, trotz des Adrenalins. Ich war auf einen Nagel getreten, alles voller Blut. Ich ärgerte mich, dass ich deswegen das Bild nicht aufnehmen konnte, für das ich herbei geeilt war. So humpelte ich zu einem Sanitäter, der schnell erste Hilfe leistete.Ich dachte, ich könnte noch weiter fotografieren, doch ich konnte so nicht mehr richtig laufen. Die Medien berichten von insgesamt 380 festgenommenen Personen und 38 Verletzten, davon 14 Polizeibeamte. Auch nach Zugeständnissen Macrons, zeigen sich die Gilets Jaunes noch immer unzufrieden und führen ihre Proteste fort, wobei die Beteiligung stark rückläufig ist und nun allgemeine Müdigkeit zu beobachten ist. Nach Angaben des Innenministeriums waren es zuletzt kaum mehr als 18000 Menschen landesweit und etwa 1500 in Paris.
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