Heute findet Ihr hier einen Gastbeitrag von Jürgen Warschun über street photography. Mehr von ihm findet ihr auf seinem flickr. Viel Spaß beim Lesen!
“If you can smell the street by looking at the photo, it’s a street photograph” (Bruce Gilden)
Diese interessante Definition, was Street Photography sei, unterscheidet sich deutlich von denen, die jegliches “Fotografieren im öffentlichen Raum” schon an sich als Street Photography ansehen.
Dass Fotos, also zweidimensionale Sichten auf unsere vierdimensionale Welt, versuchen sollen, Tiefe und Dynamik zu zeigen, ist eine ebenso alte Forderung wie eben die, dass Fotos sinnlich sein sollen. Der Betrachter soll idealerweise nicht nur sehen, sondern wirklich fühlen und nachempfinden, dass es klirrend kalt oder heiß und schwül oder staubig und trocken oder feucht und dreckig oder verqualmt und übelriechend ist, dass die abgebildeten Personen euphorisch oder frustiert oder verängstigt oder entsetzt oder verunsichert sind.
Als ich ein Kind war, sahen wir im Fernsehen eine “Lassie”-Folge. Es war Hochsommer, brüllend heiß, und so hatten wir die Jalousie heruntergelassen, da die Sonne genau auf das Wohnzimmerfenster schien. In der “Lassie”-Folge regnete es furchtbar in der Nacht. Plötzlich klingelte es bei uns. “Wer kommt den mitten in der Nacht bei diesem Regen?” wunderte ich mich. So sehr war ich gefangen in der Fernsehfolge, dass ich dachte, ich befände mich in dieser regnerischen Nacht, dabei war draußen 30 Grad und Sonnenschein. Idealerweise sollte das mit Streetfotos auch so sein, dass sie den Betrachter die Gluthitze oder die Kälte der Nacht oder die stinkenden Abgase und auch den Lärm, die Hektik, den Stress spüren lassen.
Einer meiner besten Freunde, so einer von der Sorte, dass du ihm tausend Euro gibst und weißt genau, dass du sie wiederbekommst, wundert sich immer, warum ich fotografiere. “Wenn ich anderen zeigen will, wie es irgendwo aussieht, kaufe ich eine Postkarte, dann sehen sie es doch.”
Ich halte diese Meinung für extrem ignorant und streite mit dem Freund oft darüber. Sieht man auf Postkarten Blut, Schweiß und Tränen? Euphorie und Enttäuschung? Wut und Zorn? Trauer und Depression? Als Street Photographer will ich das echte Leben mit allen Facetten festhalten, keine vorgegaukelte Idylle im Park am Springbrunnen von Friedrich-Wilhelm dem Soundsovielten.
Also muss ich raus. Raus, wenn es in Strömen regnet und die Straße überschwemmt ist. Raus an den Hundstagen. Raus auch im Urlaub, wenn dort 45 Grad im Schatten sind, oder minus 15 Grad.
Vom jungen Steve McCurry gibt es ein Bild, auf dem er in Indien zur Monsunzeit bis zur Brust im Wasser steht. Vom jungen Alex Webb gab es in den 1980ern zwei meisterhafte Werke “Hot Light / Half-made Worlds” und “Under a grudging sun”, mit fantastischen Streetfotos aus Mexiko, Haiti etc., also von Orten, an denen es meist heiß ist, 35 Grad im Schatten, und als Streetfotograf konnte er nicht nur im Schatten sitzen und warten. Das sieht man den fantastischen Fotos an.
Viele Streetfotografie-Gruppen in den sozialen Medien leiden meiner Meinung nach darunter, dass die meisten Fotos zu glatt, zu wenig sinnlich sind. “9 to 5”-Fotografie, Dienst nach Vorschrift. Eine Person im öffentlichen Raum – klick, fertig ist das Streetfoto. Omas beim Einkaufen. Rentner mit Hund beim Gassigehen. Keiner schwitzt, keiner friert, keiner ächzt und keucht, keiner leidet, keiner ist euphorisch.
Viele Fotografen fliegen heute nach Kuba, morgen nach Marokko, übermorgen nach Myanmar, aber vom echten Leben in diesen Ländern sehen wir auf den Fotos sehr wenig. Statt dessen werden meist Postkarten nachgeahmt.
Vintage Car auf dem Malecón in La Habana – klick.
Mann in Djellaba in Marrakesch, vielleicht mit Esel – klick.
Junge Nachwuchsmönche in orange in Myanmar – klick.
Mein Appell: viel weiter hinter die touristischen Angebote und Kulissen gehen. Ich habe damit vor Jahren angefangen und es nie bereut. Ich sehe bei manchen Fotografen allerdings auch Angst davor, überfallen zu werden. Wer will sich schon die niegelnagelneue Vollformatkamera klauen lassen und das neueste Smartphone!
Glaubt jemand, dass es richtig gefährlich ist? Lebensgefährlich? Was sagt die Statistik? In einer deutschen 100.000-Einwohner-Stadt warden pro Jahr etwa 3 bis 4 Menschen umgebracht. In vielen afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten sind es 20 bis 30. In extrem gefährlichen Gegenden wie Tijuana oder Ciudad de Juárez in Mexiko oder Caracas in Venezuela sind es 60. Pro 100.000. Meist geht es da um Drogen. Manchmal sind es Eifersuchtsdramen. Warum sollte jemand einen Streetfotografen umlegen?
Die Lösung, um Probleme zu vermeiden: “travel light”. Lass das teure Equipment zu Hause. Wirklich gute gebrauchte Kameras gibt’s schon ab 150 bis 250 Euro gebraucht, z.B. Fuji X-E1 und X-Pro1, Sony NEX-7 und NEX-6, Panasonic GX7, Ricoh GR und andere. Dazu ein billiges 20-Euro-Handy. Sowas klaut keiner, und wenn, dann ist der Schaden gering. Dazu: Cargohosen mit vielen Taschen und idealerweise Reißverschlüssen. Geld und Papiere nicht in die leicht erreichbaren oberen Hosentaschen, sondern weiter unten. Einen Gürtel mit innenliegendem Geldfach benutzen … der kostet 10 Euro. Geldscheine auf verschiedene Taschen verteilen, damit im Zweifel nicht alles geklaut wird.
Dann dahin gehen, “wo’s weh tut”, wo es laut ist und nervig, wo’s stinkt und qualmt, wo man lacht und heult und schreit und flucht.
Mehr “Smell the street” wagen!
Zu viel verlangt? Was meint ihr?
Leave a reply
Toller Artikel!
Den Rat mit einer günstigen Kamera werde ich beherzigen. Bin sooft in Südamerika und fotografiere dort nicht, weil ich Angst um meine Leica habe, ärgere mich aber jedes Mal, dass ich keine Kamera parat habe.
Schöner Adtikel, welcher es quasi auf den Nerv trifft. Mach weiter so, deine Bilder sind klasse!